Jungfräulichkeit: Ein feministischer Blick auf einen heteronormativen Mythos

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Jungfräulichkeit: Ein feministischer Blick auf einen heteronormativen Mythos

Jungfräulichkeit: Ein feministischer Blick auf einen heteronormativen Mythos

Die Jungfräulichkeit – ein Konzept, das in vielen Kulturen und Gesellschaften tief verwurzelt ist und oft mit Reinheit, Moral und Wert assoziiert wird. Doch was steckt wirklich hinter diesem Begriff? In diesem Blogartikel werfen wir einen feministischen Blick auf den Mythos der Jungfräulichkeit.

Disclaimer: In diesem Artikel verwende ich oft das Wort “Frau” statt FLINTA (Frauen, Lesben, Inter, Trans & Asexuelle Personen), da der Mythos Jungfräulichkeit auf binäre Geschlechter (also Mann vs. Frau) abzielt. An dieser Stelle ist mir wichtig zu erwähnen, dass nicht alle Frauen eine Vulva, Vagina und/ oder einen Uterus haben und nicht alle Menschen mit Vulva, Vagina und/ oder einem Uterus Frauen sind.

Was ist Jungfräulichkeit?

Traditionell wird Jungfräulichkeit als der Zustand vor dem ersten (penetrativen) Geschlechtsverkehr definiert. Diese Definition dient oft dazu, den Wert und die Moral von Frauen zu bewerten, während Männer nicht den gleichen Maßstäben unterworfen sind. Und das hat Folgen.

Woher kommt das Konzept?

Historisch gesehen wurde die sexuelle Reinheit von Frauen in vielen Kulturen als wertvoller Besitz betrachtet, der die Ehre der Familie bewahrte. In patriarchalen antiken Zivilisationen wie dem alten Rom und Griechenland sowie im mittelalterlichen Europa war die Jungfräulichkeit einer Frau vor der Ehe von großer Bedeutung. Frauen wurden oft als Eigentum ihrer Väter betrachtet, und ihre Jungfräulichkeit wurde als Garant für ihre Unversehrtheit und Treue angesehen.

In vielen Kulturen wurden strenge Kontrollen und Rituale eingeführt, um die Jungfräulichkeit der Frauen zu bewahren, und auch heute noch werden sogenannte Jungfrauentests oder Keuschheitsproben durchgeführt, um die „Reinheit“ einer Frau zu bestätigen. Das reicht von der „Bezeugung“ der Jungfräulichkeit in der Hochzeitsnacht bis hin zur Überprüfung eines „intakten“ Hymen (=„Jungfernhäutchen“) und ist oft, wenn nicht immer, übergriffig. Das Jungfernhäutchen ist übrigens ein Mythos - unten mehr dazu.

Diese historischen Praktiken dienten nicht nur der Kontrolle über die Sexualität der Frauen, sondern auch der Sicherstellung der patrilinearen Abstammung und des Erbes. Die „Reinheit“ der Frau war entscheidend, um die Legitimität der Nachkommen zu gewährleisten und den sozialen Status der Familie zu sichern. Diese tief verwurzelten patriarchalen Normen und Praktiken haben die Wahrnehmung der weiblichen Sexualität über Jahrhunderte hinweg beeinflusst und prägen noch heute viele Gesellschaften.

Die Kontrolle über weibliche Sexualität

Der Mythos der Jungfräulichkeit fungiert als Instrument zur Kontrolle und Unterdrückung von Frauen. Die Vorstellung, dass eine Frau "unrein" oder "beschädigt" sei, wenn sie keine Jungfrau mehr ist, verstärkt schädliche Stereotypen und legt die Grundlage für eine Kultur der Scham und Schuld.

In vielen Kulturen wird das Jungfernhäutchen als Indikator für Jungfräulichkeit betrachtet. Der weit verbreitete Mythos, dass das Jungfernhäutchen(=Hymen) beim ersten Geschlechtsverkehr immer reißt und blutet, ist falsch. Das Hymen ist ein flexibles Gewebe, das unterschiedlich geformt sein kann und nicht zwangsläufig beim ersten Geschlechtsverkehr reißt und bluten muss. Es gibt keinen Test, der „Jungfräulichkeit“ bestätigt.

Selbstbestimmte Sexualität und Lust bei Frauen wurde dabei lange unter den Tisch gekehrt, denn es ging vor allem um die Verpflichtung, legitime Nachkommen zur Welt zu bringen. Frauen fungierten als Gebärmaschine. Weibliche Lust wurde und wird dabei maßgeblich von Männern diktiert: lustvoll mit dem Partner sein ist notwendig, aber der Grad zwischen prüde sein und leicht zu haben ist ein schmaler.

Außerdem beschreibt das Konzept “Jungfräulichkeit” Sex oft nur dann als Sex, wenn ein heteronormatives Paar penetrativen Sex hat (also, wenn ein Penis in die Vagina eingeführt wird). Außer Acht gelassen wird queerer Sex genauso wie der Fakt, dass auch heteronormative Paare Sex ohne Penetration haben können.

Emotionale und psychische Belastungen

Der gesellschaftliche Druck, eine "Jungfrau" zu sein, kann auch heute noch erheblichen emotionalen und psychischen Stress verursachen, insbesondere für junge Frauen. Die Angst, den gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu entsprechen, kann das Selbstwertgefühl und die sexuelle Selbstbestimmung stark beeinträchtigen.

Selbstbestimmung und sexuelle Befreiung

Ein feministischer Ansatz fordert Selbstbestimmung und sexuelle Befreiung aller Menschen und aller Sexualitäten. Sexualität ist persönlich, und alle Menschen sollten die Freiheit haben, ihre Sexualität ohne Scham oder Schuld zu entdecken. Es ist essenziell, dass wir Zugang zu umfassender und feministischer Sexualaufklärung haben, die uns dabei hilft, Mythen zu entlarven und ein gesundes Verständnis unserer eigenen Sexualität und unserem eigenen Körper zu entwickeln, damit wir verstehen, dass unsere Bedürfnisse, Vorlieben und Grenzen berechtigt sind und respektiert werden müssen.

Aufklärung in der Schule ist oft schambehaftet und fokussiert sich auf Verhütung und das Vermeiden von sexuell übertragbaren Krankheiten. Das sind wichtige Themen, aber sie sind nicht ausreichend für eine Generation junger Menschen, die aufgeklärt und selbstbestimmt mit Intimität, Sex und dem eigenen Körper umgeht.

Schlussfolgerung

Der Mythos der Jungfräulichkeit ist tief in patriarchalen Strukturen verwurzelt und dient der Kontrolle und Unterdrückung von Frauen. Ein feministischer Blick auf dieses Thema zeigt, wie wichtig es ist, diese Mythen zu hinterfragen und die Selbstbestimmung und sexuelle Befreiung von Frauen zu fördern. Durch Bildung und Aufklärung können wir dazu beitragen, eine Kultur zu schaffen, in der Frauen ihre Sexualität frei und ohne Scham erleben können.

Quellenangaben:

  1. Impett, E. A., & Tolman, D. L. (2006). "Late adolescent girls' sexual experiences and sexual satisfaction." Journal of Adolescent Research, 21(6), 628-646.
  2. https://www.mdr.de/religion/jungfernhaeutchen-jungfrau-hymen-mythos-irrglaube-geschichte-rekonstruktion-100.html
  3. https://www.swr.de/swrkultur/wissen/mythos-jungfernhaeutchen-wie-falsche-vorstellungen-frauen-schaden-102.html
  4. https://www.genderopen.de/bitstream/handle/25595/750/fs-1986-0107.pdf?sequence=1&isAllowed=y
  5. https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-1832-4771.pdf
  6. https://www.zeit.de/zett/politik/2018-11/female-pleasure-dieser-film-zeigt-dass-weibliche-sexualitaet-noch-immer-unterdrueckt-wird
  7. https://www.vice.com/de/article/wie-verlieren-lesben-ihre-jungfraeulichkeit/
  8. https://www.deutschlandfunkkultur.de/therapeutin-ueber-weibliche-sexualitaet-wenig-gefuehl-fuer-100.html